Aussteiger-Literatur: Der Racheengel

In den letzten 10 Jahren traten immer mal wieder Aussteiger aus der Rocker-Szene durch ihre Buch-Veröffentlichungen erneut in den Blickpunkt der Öffentlichkeit. Manche Werke waren gut, andere wenigstens unterhaltsam, doch unter dem Strich gibt es zu viel literarischen Müll. Der Racheengel von Thomas P. fällt für mich definitiv in diese Kategorie. Thomas P. war ein Hells Angel.

Aufgrund diverser Vergehen wurde er verhaftet, vernommen und hat ausgesagt. Es kam zu dem, was die Exekutive nur allzu gerne anwendet, nämlich der Kronzeugen-Regelung und Aufnahme in das Zeugenschutz-Programm. Er packte aus. Grundsätzlich bin ich keine Leseratte, stehe ohnehin den literaischen Ergüssen von Aussteigern eher kritisch gegenüber, doch dieses Buch interessierte mich, weil mir einige darin benannte Protagonisten und Ereignisse persönlich bekannt sind und der Autor mit der Subline auf dem Cover anmerkte, dass er der Kronzeuge gegen die deutschen Hells Angels sei.

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Über die Kronzeugnregelung kann man denken, was man will. Für die meisten ist es ganz klar ein Verrat an dem MC, für andere ist es ggf. eine Art Leuterungs-Prozess. Welche Motivation steckt dahinter? Ist es die General-Abrechnung mit den eigenen Brüdern, will sich der Betroffene von vermeintlicher Schuld reinwaschen oder sind es einfach nur handfeste finanzielle Bedürfnisse?

Wenn ich mir ein Buch dieser Art kaufe, dann erwarte ich echte Hintergründe zu erfahren. Ich will hinter die Fassade schauen können, will nach der Lektüre zum Nach- oder Umdenken angeregt oder wenigstens gut unterhalten werden. Der Verlag selber hat das Buch 2010 als Enthüllungsbericht vorgestellt. Insofern lag die Messlatte durchaus hoch.

Der Racheengel ist kein Roman, in dem es vordergründig um Unterhaltung geht, nein, es ist die Abrechnung eines Mannes, der vermutlich aufgrund erheblicher innerer Konflikte in eine Situation geraten ist, die er selber nicht mehr kontrollieren konnte und die ihn in einen großen Zwiespalt versetzte. Diesem Druck gab er nach und entschied sich mit dem MC zu brechen. Soweit so gut. Doch wenn ich mich dann trotz Zeugenschutz-Programm erneut in die Öffentlichkeit wage, dann muss ich auch Tacheles reden und dem Leser etwas mitteilen, was er sich so nie hätte vorstellen können.

Und, tut es das Buch?

Der Racheengel erfüllt diese Aspekte m. E. nicht. Es entsteht beim Lesen permanent der Eindruck, dass der Autor krampfartig versucht, seine eigene Geschichte mit vermeintlich brisanten Anekdoten aus der Vergangenheit zu füttern. Das die Probezeit bei den Höllenengeln kein Zuckerschlecken ist, liegt auf der Hand. Jederzeitige Verfügbarkeit ist allerdings kein Monopol dieses MC’s. Einwirkungen auf das soziale Umfeld muss ohnehin jeder 1%er von vorneherein in Kauf nehmen und die standardmäßige Erklärung von Insignien, Emblemen und Strukturen werte ich als Füllinhalte und beileibe nicht als neue Erkenntnisse, gar eine Enthüllung.

Szene-Kenner wissen um deren Bedeutung und selbst Leser aus der gesellschaftlichen Mitte interessieren die Hierarchien doch wohl eher nur am Rand, zumal diese bereits ausführlich in der Vergangenheit beschrieben wurden. Was zählt sind im Grunde unwiderlegbare Fakten. Diese bleibt  das Buch schuldig. Durch die Veröffentlichung einiger Vernehmungs-Protokolle versucht der Autor den beschriebenen Sachverhalten Brisanz zu vermitteln. Wer sich diese Protokolle genau anschaut, wird recht schnell ernüchtert sein.

Der Racheengel

Der Racheengel

Hier und da werden ehemalige Brüder namentlich genannt und entweder als zurückhaltend oder eben dominant und schwierig betitelt. Der Autor belässt es jedoch bei relativ pauschalen Schilderungen. Die Ausführungen zu seiner damaligen familiären Situation emotionalisiert zwar, doch ergibt sich dadurch nicht das Bild eines dauerhaften Martyriums. Ich habe es nie verstanden, warum Ex-Member, die nicht unbedingt die gesamte Entwicklung des MC’s oder wenigstens des Chapters oder Charters als solches über sehr lange Zeit beeinflusst haben, den literaischen Weg überhaupt gehen.

Wenn Terry The Tramp als ehemaliger International-Präsident des Vagos MC ein Buch schreibt, hat dieses bei weitem deutlich mehr Gewicht, da er ganze Strukturen im gesamten MC erschaffen und diesen nach Außen als hochrangige Person über Jahrzehnte geführt und vertreten hat. Zudem ist es autobiografisch. Durch den Buchtitel erklärt sich im Falle von Thomas P. die Motivlage recht eindeutig. Es geht um Rache. Nur führen Rachegelüste oftmals zu einer Verschleierung der objektiven Fakten und nicht ohne Grund wird das Motiv Rache im Strafrecht bei Tötungsdelikten als Mord gewertet, da der Täter damit niederen Instinkten folgt.

Auf das eigene verwerfliche Handeln im MC geht Thomas P. indessen gar nicht ein, obwohl er über einen extrem langen Zeitraum dessen Standing mitgetragen hat. Immerhin wurden ihm seinerzeit erhebliche Straftaten zur Last gelegt. Einer angemessenen Bestrafung ist er nur entgangen, weil er den Mund aufmachte. Doch im Buch fehlt die dezidierte Auseinandersetzung mit seinen eigenen Taten vollkommen. Damit bleibt die Antwort auf die Frage nach der persönlichen Verantwortung unbeantwortet, da diese erst gar nicht thematisiert wird. Und das ist mir viel zu flach.

Der Racheengel hat in mir nichts bewirkt. Mir liegen nach nunmehr fast 10 Jahren keine Erkenntnisse vor, dass die Beschreibungen von Thomas P. zu einer heftigen Verurteilungswelle geführt haben. Zudem stelle ich mir abschließend die Frage, ob es dieses Buch überhaupt gegeben hätte, wenn der Autor seinerzeit nicht selber verhaftet worden wäre und er die Kronzeugenregelung nur deshalb in Anspruch genommen hat, um seinen eigenen Arsch zu retten, was relativ klar auf der Hand liegt.  Insofern werte ich das Buch keinesfalls als aufklärend, enthüllend oder gar fundiert, sondern als das, was es letztlich nur ist.

Nämlich Rache!

Hinweis: Ich habe ganz bewusst ein Buch gewählt, welches bereits vor geraumer Zeit geschrieben wurde. Denn unmittelbar nach der Erstveröffentlichung wirken die Inhalte völlig anders und können schnell zu unreflektierten Rückschlüssen führen. Jetzt, nach fast 10 Jahren, kann man durchaus fundiert sagen, dass die Aussagen von Thomas P. an sich nichts bewirkt haben, weder in Bezug auf sein damaliges Charter, und erst recht nicht in Bezug auf den gesamten MC.

Kaufempfehlung? Nein, es gibt weitaus bessere Literatur von Rockern.

Autor: Lars Petersen

Mitglied im DPV Deutscher Presseverband - Verband für Journalisten e.V. Über 30 Jahre Erfahrung als Vertriebsmann, davon 9 Jahre Anzeigenleiter bei der Borgmeier Media Gruppe GmbH in Delmenhorst. Steckenpferd? Texten. Zur Person? Vater und MC-Mitglied (1%er). Karre? 99er Harley Davidson Road King. KM pro Jahr? Das reicht schon! Mein Credo? Geht nicht, gibt es nicht!! Machen, nicht labern! Der Autor weist ausdrücklich darauf hin, dass er seine Tätigkeit mit der höchst möglichen Neutralität und Objektivität ausführt und die Inhalte im Online-Magazin nur von ihm entschieden werden, sofern es sich nicht um bezahlte Aufträge handelt. Besonderes: U. a. Veranstalter von Bikes, Music & More Vol.1 bis 5. - Das Biker-Festival in Delmenhorst, Organisator der Biker Meile im Rahmen des Delmenhorster Autofrühlings sowie Produzent vom Motorcycle Jamboree Journal. Ausrichter vom Rocker Talk 1 und 3.